
Weinland
von Jan Wattenhofer
26. Juli 2024
Helene Zimmermann führte durch den zweistündigen Kurs und vermittelte den Kindern spielerisch ihr Wissen. / Jan Wattenhofer
Sieben Kinder bahnen sich den Weg durch das Kurszimmer. Sie haben die Augen geschlossen, oder ihre Sicht wird durch eine Maske verdunkelt. In der Hand halten sie einen Blindenstock, mit dem sie den Boden in einer stetigen Wischbewegung nach möglichen Hindernissen absuchen.
Im Sommerferienkurs «Aus blinder Sicht» des Zentrums Breitenstein nähern sich die Primarschülerinnen und -schüler der Welt ohne Augenlicht an. Kursleiterin Helene Zimmermann ist seit über 25 Jahren vollständig blind. Bis zu ihrem 44. Lebensjahr habe sie auf einem Auge durch ein kleines «Löchli» sehen können, erklärt sie den Kindern. So lange arbeitete die Glarnerin noch als Lehrerin. Nach ihrer Erblindung studierte sie an der Universität Zürich Sonder- und Sozialpädagogik sowie Sozial- und Präventivmedizin. Heute präsidiert die 70-Jährige den Schweizerischen Blindenbund und setzt sich mit ihrem Spezialwissen in verschiedenen Projekten für Sehbehinderte in der ganzen Schweiz ein.
Den Kurs in der Beratungsstelle gleich beim Bahnhof Andelfingen hat sie schon mehrfach gegeben. Unterstützt wird sie meistens von Andrea Nolé vom Zentrum Breitenstein. Helene Zimmermann hat den Sommerferienkurs aber auch schon alleine durchgeführt. Stets an ihrer Seite ist ihr Blindenführhund Aiko.
Der beste Freund von Blinden
Der schwarze Labrador-Golden-Retriever-Mischling ist zu Beginn des Kurses gleich der Star eines Videos: Zu sehen ist, wie der Vierbeiner Helene Zimmermann im Winter sicher durch knietiefen Schnee und über rutschige Strassen führt. An diesem Nachmittag ist Aiko jedoch nicht in Topform. Schlapp liegt er unter dem Tisch. Der Hund leide noch an den Folgen eines Kreuzbandrisses, erzählt die Kursleiterin den Kindern.
Für eine Demonstration reicht es dennoch. Aiko steht auf und bekommt sein Führgeschirr übergestreift. Das Zeichen, dass er an die Arbeit muss. Mit einem deutlichen «Porta» gibt Helene Zimmermann ihrem Blindenführhund das Kommando, ihr die Tür zu zeigen. Aiko führt sie hin und richtet Körper wie Schnauze zur Türklinke. Aufgabe erfüllt.
Nachdem Helene Zimmermann wieder an ihrem Platz und der Vierbeiner sein Geschirr los ist, kommt der nächste Befehl: «A Terra.» Aiko macht Platz. Die meisten Kommandos für Blindenführhunde sind auf Italienisch. In ihrer zweijährigen Grundausbildung lernen die Tiere 30 Befehle.
«Wie viel kostet wohl die Ausbildung für einen Blindenhund?», fragt Helene Zimmermann in die Runde. Ein Junge schätzt 1000 Franken, ein anderer 1500. «Ich glaube, es ist mehr – etwa 10'000 Franken», sagt ein Mädchen. Die Lösung überrascht die Kinder: rund 65'000 Franken. Einige der Blindenführhunde werden sogar im Zürcher Weinland ausgebildet: Die Stiftung Simpera in Flaach kommt dieser wichtigen Aufgabe nach (AZ vom 19.7.2022).
Neue Sicht, neue Schrift
Nun müssen die Mädchen und Jungen wieder aktiv werden. Die Kursleiterin gibt Brillen in die Runde, mit denen die Sicht von Sehbehinderten simuliert wird. Die Welt wird verschwommen oder nur noch durch ein kleines Loch auf einem Auge erkennbar.
«Was würdet ihr am meisten vermissen ohne Augenlicht?», fragt Helene Zimmermann. «Lesen und schreiben zu können», sagt eines der Mädchen. Ein Junge antwortet: «Velo fahren.» Blinde würden auch Velo fahren, aber nur auf einem Tandem, erzählt die Glarnerin.
«Am schlimmsten ist für mich, dass ich keine Farben mehr sehe», sagt Helene Zimmermann. Ein kleines Gerät, das aussieht wie eine Fernbedienung, sagt ihr, welche Farbe beispielsweise ihre Kleider haben. Die Kinder können es gleich selbst ausprobieren und halten das Gerät an ihre T-Shirts. Nicht immer liegt das Gerät richtig, ein nützliches Hilfsmittel ist es allemal. Die Augen kann es jedoch nicht ersetzen.
Tägliche Tücken
Bei all den bisherigen Eindrücken sind die Kinder am meisten von der Blindenschrift fasziniert. Als Aufwärmübung lesen sie zuerst ein Gedicht mit ihren Fingern. «Die Schwierigkeit ist es, die Punkte überhaupt zu spüren», sagt Helene Zimmermann. Dann geht es ans Schreiben: Alle Anwesenden bekommen ein Raster, in das sie ein Stück Papier einklemmen können. Mit einem Werkzeug können sie Löcher ins Papier stanzen und so in Blindenschrift einige Wörter schreiben, was sie konzentriert tun.
«Verpackungen im Laden sind fast nie für Sehbehinderte beschriftet», sagt die Kursleiterin, und macht nochmals darauf aufmerksam, dass ihr Alltag vielerlei Tücken birgt: vom Einkaufen über das Kochen bis hin zum Reisen mit dem ÖV. So habe sie auf ihre Apfelwähe schon Muskatnuss anstatt Zimt gestreut, weil ihre Putzfrau den Gewürzschrank aufgeräumt habe.
Den Kindern gibt Helene Zimmermann an diesem Nachmittag nicht nur eine neue Sicht auf die Welt mit, sondern ermutigt sie auch, auf Blinde zuzugehen. Das Fazit der Kinder ist klar: Sie hätten nun ein besseres Verständnis für Sehbehinderte und ihre alltäglichen Probleme. Ein Erfolg für die Kinder wie für die Kursleiterin.
Einen Nachmittag lang blind sein
Sieben Kinder konnten sich im Rahmen des Ferienplausches des Zentrums Breitenstein in eine ungewohnte Lage versetzen: ein Leben mit Sehbehinderung. Hierzu fand der Kurs «Aus blinder Sicht» statt.von Jan Wattenhofer
26. Juli 2024
Helene Zimmermann führte durch den zweistündigen Kurs und vermittelte den Kindern spielerisch ihr Wissen. / Jan Wattenhofer
Sieben Kinder bahnen sich den Weg durch das Kurszimmer. Sie haben die Augen geschlossen, oder ihre Sicht wird durch eine Maske verdunkelt. In der Hand halten sie einen Blindenstock, mit dem sie den Boden in einer stetigen Wischbewegung nach möglichen Hindernissen absuchen.
Im Sommerferienkurs «Aus blinder Sicht» des Zentrums Breitenstein nähern sich die Primarschülerinnen und -schüler der Welt ohne Augenlicht an. Kursleiterin Helene Zimmermann ist seit über 25 Jahren vollständig blind. Bis zu ihrem 44. Lebensjahr habe sie auf einem Auge durch ein kleines «Löchli» sehen können, erklärt sie den Kindern. So lange arbeitete die Glarnerin noch als Lehrerin. Nach ihrer Erblindung studierte sie an der Universität Zürich Sonder- und Sozialpädagogik sowie Sozial- und Präventivmedizin. Heute präsidiert die 70-Jährige den Schweizerischen Blindenbund und setzt sich mit ihrem Spezialwissen in verschiedenen Projekten für Sehbehinderte in der ganzen Schweiz ein.
Den Kurs in der Beratungsstelle gleich beim Bahnhof Andelfingen hat sie schon mehrfach gegeben. Unterstützt wird sie meistens von Andrea Nolé vom Zentrum Breitenstein. Helene Zimmermann hat den Sommerferienkurs aber auch schon alleine durchgeführt. Stets an ihrer Seite ist ihr Blindenführhund Aiko.
Der beste Freund von Blinden
Der schwarze Labrador-Golden-Retriever-Mischling ist zu Beginn des Kurses gleich der Star eines Videos: Zu sehen ist, wie der Vierbeiner Helene Zimmermann im Winter sicher durch knietiefen Schnee und über rutschige Strassen führt. An diesem Nachmittag ist Aiko jedoch nicht in Topform. Schlapp liegt er unter dem Tisch. Der Hund leide noch an den Folgen eines Kreuzbandrisses, erzählt die Kursleiterin den Kindern.
Für eine Demonstration reicht es dennoch. Aiko steht auf und bekommt sein Führgeschirr übergestreift. Das Zeichen, dass er an die Arbeit muss. Mit einem deutlichen «Porta» gibt Helene Zimmermann ihrem Blindenführhund das Kommando, ihr die Tür zu zeigen. Aiko führt sie hin und richtet Körper wie Schnauze zur Türklinke. Aufgabe erfüllt.
Nachdem Helene Zimmermann wieder an ihrem Platz und der Vierbeiner sein Geschirr los ist, kommt der nächste Befehl: «A Terra.» Aiko macht Platz. Die meisten Kommandos für Blindenführhunde sind auf Italienisch. In ihrer zweijährigen Grundausbildung lernen die Tiere 30 Befehle.
«Wie viel kostet wohl die Ausbildung für einen Blindenhund?», fragt Helene Zimmermann in die Runde. Ein Junge schätzt 1000 Franken, ein anderer 1500. «Ich glaube, es ist mehr – etwa 10'000 Franken», sagt ein Mädchen. Die Lösung überrascht die Kinder: rund 65'000 Franken. Einige der Blindenführhunde werden sogar im Zürcher Weinland ausgebildet: Die Stiftung Simpera in Flaach kommt dieser wichtigen Aufgabe nach (AZ vom 19.7.2022).
Neue Sicht, neue Schrift
Nun müssen die Mädchen und Jungen wieder aktiv werden. Die Kursleiterin gibt Brillen in die Runde, mit denen die Sicht von Sehbehinderten simuliert wird. Die Welt wird verschwommen oder nur noch durch ein kleines Loch auf einem Auge erkennbar.
«Was würdet ihr am meisten vermissen ohne Augenlicht?», fragt Helene Zimmermann. «Lesen und schreiben zu können», sagt eines der Mädchen. Ein Junge antwortet: «Velo fahren.» Blinde würden auch Velo fahren, aber nur auf einem Tandem, erzählt die Glarnerin.
«Am schlimmsten ist für mich, dass ich keine Farben mehr sehe», sagt Helene Zimmermann. Ein kleines Gerät, das aussieht wie eine Fernbedienung, sagt ihr, welche Farbe beispielsweise ihre Kleider haben. Die Kinder können es gleich selbst ausprobieren und halten das Gerät an ihre T-Shirts. Nicht immer liegt das Gerät richtig, ein nützliches Hilfsmittel ist es allemal. Die Augen kann es jedoch nicht ersetzen.
Tägliche Tücken
Bei all den bisherigen Eindrücken sind die Kinder am meisten von der Blindenschrift fasziniert. Als Aufwärmübung lesen sie zuerst ein Gedicht mit ihren Fingern. «Die Schwierigkeit ist es, die Punkte überhaupt zu spüren», sagt Helene Zimmermann. Dann geht es ans Schreiben: Alle Anwesenden bekommen ein Raster, in das sie ein Stück Papier einklemmen können. Mit einem Werkzeug können sie Löcher ins Papier stanzen und so in Blindenschrift einige Wörter schreiben, was sie konzentriert tun.
«Verpackungen im Laden sind fast nie für Sehbehinderte beschriftet», sagt die Kursleiterin, und macht nochmals darauf aufmerksam, dass ihr Alltag vielerlei Tücken birgt: vom Einkaufen über das Kochen bis hin zum Reisen mit dem ÖV. So habe sie auf ihre Apfelwähe schon Muskatnuss anstatt Zimt gestreut, weil ihre Putzfrau den Gewürzschrank aufgeräumt habe.
Den Kindern gibt Helene Zimmermann an diesem Nachmittag nicht nur eine neue Sicht auf die Welt mit, sondern ermutigt sie auch, auf Blinde zuzugehen. Das Fazit der Kinder ist klar: Sie hätten nun ein besseres Verständnis für Sehbehinderte und ihre alltäglichen Probleme. Ein Erfolg für die Kinder wie für die Kursleiterin.